Philomena vergibt
Als die junge Philomena Lee im streng katholischen Irland der fünfziger Jahre ein uneheliches Kind erwartet, wird sie von ihren Eltern verstoßen und ins Kloster geschickt, um der öffentlichen Schande zu entgehen. Doch Philomena trifft dort nicht auf Barmherzigkeit: Sie wird von den Nonnen genötigt, ihr Kind zur Adoption freizugeben und muss Jahre im Dienst des strengen Klosters verbringen, stets hoffend, dass sich keine Pflegeeltern für ihren Sohn Anthony finden werden und sie ihn irgendwann zu sich nehmen darf. Philomenas Hoffnung wird enttäuscht, als nach drei Jahren Anthony zu neuen Eltern in die USA gegeben wird. Fünfzig Jahre lang schweigt Philomena Lee zu ihrer Vergangenheit, bis sie ihrer Tochter Jane ihr trauriges Geheimnis anvertraut, die daraufhin den arbeitslosen ehemaligen BBC-Korrespondenten Martin Sixsmith bittet, Philomena bei der Suche nach dem verlorenen Sohn zu helfen. Bei ihren Nachforschungen stoßen sie auf eine erschütternde Geschichte – und einen unfassbaren Skandal. Das Kloster hatte die Kinder ohne Rücksprache mit den Müttern an reiche Paare aus Amerika verkauft.
In einer der letzten Szenen des Films „Philomena – Eine Frau sucht ihres Sohn des britischen Regisseurs Stephen Frears, der nach einer wahren Begebenheit produziert wurde, sagt Philomena zur einer noch lebenden, im Rollstuhl sitzenden Schwester, die beim Ereignis dabei war, verbittert und zu keinerlei Reue fähig ist: „Ich vergebe ihnen“ und an Sixsmith gewandt, der meint, dass er eine solche Tat niemals vergeben könnte: „Ich möchte nicht so sein wie Sie, so hassend und verbittert.“
Philomena Lee, so der vollständige Name der Autorin des dem Film zugrundeliegenden Buches, möchte „in der Liebe bleiben“. Der Veröffentlichung ihrer Geschichte stimmte sie letztendlich doch zu. Hätte sie dies nicht getan, so hätte zumindest bei mir der Film einen Anflug von Wut hinterlassen. So jedoch bleiben: ein großes Berührt-Sein und viele Fragen; vor allem der Akt des Verzeihens, wo der Seher, die Seherin des Films auf den ersten Blick keine Antwort auf die Frage bekommt: „Wie ist ihr das gelungen, ist das überhaupt möglich, oder ist die Botschaft des Films einfach kitschig?
Philomena gibt die Schuldfrage nicht auf, die Schuld bleibt bestehen. Doch sie nimmt ihre Geschichte an. Sie kann sie nicht ungeschehen machen. Sie kann abschließen. Auch wenn es geschehen ist, es darf für sie gewesen sein. Sie schafft es, sich selber aus dem Sumpf der erlittenen Kränkungen zu ziehen.
Die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler beschreibt in ihrem Buch „Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld“ ihre eigene Geschichte: die Mutter hatte sie, ihre Schwester und den Vater von heute auf morgen verlassen. Sie war damals 14 Jahre alt. Danach wollte die Mutter sie und ihre Familie über viele Jahre nicht mehr sehen.
Bis heute hat die Mutter nicht wirklich Reue gezeigt, ihre Schuld nie eingestanden. Trotzdem ist es Flaßpöhler gelungen, einen Rachewunsch, einen tiefliegeden Hass auf die Mutter aufzulösen, vielleicht nicht als abgeschlossenen Prozess, aber sie hat zu einer spürbareren Ruhe gefunden. Das Ereignis ist mit weniger Schwere verbunden, was den Boden für Neues bereiten kann. Seit der Publikation „Vita Activa“ der bekannten Theoretikern Hannah Arendt wurde das Verzeihen als ausschließlich theologisches Thema durch ein philosophisches ergänzt und vor allem als ethisches vorgestellt. Verzeihen löst, so Arendt, aus dem Verstrickt-sein in unsere Gedanken und Handlungen. Wir tun und sagen Dinge, die wir nicht tun möchten, und das kann dann auch nicht wieder rückgängig gemacht werden.. Das eigene Tun ist immer wieder nicht zur Gänze absehbar. Es gibt aber einen Akt, mittels dessen wir uns aus diesen Verstrickungen befreien können. Und das ist für Arendt der Akt des Verzeihens. Weil wir uns immer wieder „ineinander verfangen“. Ohne Verzeihen wäre Stagnation. Ohne Verzeihen ist kein Neubeginn möglich. Ohne Verzeihen letztendlich keine Freiheit. Verzeihen befreit aus den Schatten der Vergangenheit und schafft Raum für die Zukunft. Der Akt oder der Prozess des Verzeihens überwindet den Zirkel des Aufrechnens, er schafft „Inseln des Voraussehbaren in einem Meer der Ungewissheiten“ (Arendt).
Das Vergeben ist schwierig. Der französische Philosoph Vladimir Jankelewitsch verfasst 1967 seinen bekannt gewordenen Text „Das Verzeihen“ ( Le pardon). Er würde Philomena wohl nicht ganz glauben, dass ihr Abschließen so weit geht, dass sie keinen Groll mehr empfindet. Für Jankelewitsch gibt es nur Annäherungen an das Verzeihen. Und wie wir auch in der Psychotherapie immer wieder betonen: Verzeihen kann nicht als Normativum gedacht werden, Verzeihen lässt sich nicht anordnen. Verzeihen ist nicht „Sanftmut gegenüber einem Ereignis, sie ist eine Gabe an den Täter“ (Jankelewitsch). Ich würde hinzufügen, eine Gabe, die auch nicht einseitig sein kann. Denn ein Leben ohne Hass ist zweifellos angenehmer, zumindest weniger leidvoll. Verzeihen ist nicht „die andere Wange hinhalten“, sondern ein Verzicht auf „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Verzeihen ist Verzicht auf Rache und Vergeltung. Verzeihen ist ein Prozess, bei dem auch etwas Gutes zurückkommen kann.
Der Gesprächspsychotherapeut Reinhard Tausch hat die psychologische Dimension des Vergebens empirisch untersucht (Tausch 1993). Demnach handelt es sich beim Verzeihen um intensive innere Selbstgespräche ,die eine mentale Bewältigung des verletzenden Ereignisses ermöglichen. Tausch weist darauf hin, dass bereits eine „innere“ Vergebung ausreichend sein kann, vor allem wenn der andere nicht erreichbar ist oder eine Mitteilung unangemessen erscheint. Mit Ereignis ist es vielleicht am besten umschrieben, was Verzeihen sein kann. Die Person, die den Entschluss fasst zu verzeihen, spürt irgendwann, dass es passiert, dass Sie auf Rache und Vergeltung verzichtet und sich nicht mehr ständig das Ereignis in Erinnerung rufen muss oder es unablässig heraufbeschwört.
Verzeihen ist laut der deutschen Phänomenologin und Erziehungswissenschaftlerin Käte Meyer-Drawe kein Sprechakt, sondern ein Prozess des Zuwendens, des Handelns. Verzeihen ist nicht „berechenbar und verfügbar, es ist eine hochfragile Geste. Und deswegen meine ich auch, sie erträgt die Versprachlichung nicht. Hier richtet Sprache etwas an, wenn gesagt wird, „ich verzeihe ihm oder dir“. Das ist nicht das, was die Verzeihung ausmacht. Dem Verzeihen als Prozess, als Akt liegt ein Wille, eine Bereitschaft zugrunde. Verzeihen ist nicht nur kein Sprechakt, ich kann schnell verzeihen, wenn ich in der Straßenbahn angerempelt werde, Verzeihen ist auch mehr als ein Denkakt, es ist ein Klima, eine Atmosphäre, ein Spüren, ein Ausdruck leiblichen Verhaltens. (Meyer-Drawe im Interview/Deutschlandfunk-podcast)
Wenn ein Täter die eigene Schuld anerkennt, ist es für viele Klientinnen in der Psychotherapie leichter, dann kann diese Reue als Folge einen Akt des Verzeihens mit sich bringen. In vielen Fällen kommt es aus den unterschiedlichsten Gründen nicht dazu.
Verzeihen als Ereignis in der Psychotherapie
PsychotherapeutInnen können keine Verzeihung gewähren und auch nicht zum Verzeihen auffordern. Moralisches Beurteilen und Verurteilen steht Ihnen nicht zu.
Vor allem bei traumatisierten Menschen, die den Wert ihrer selbst verloren haben, ist die Therapie oft sehr lange damit beschäftigt, den Selbstwert wieder herzustellen, den Menschen in seinem scheinbar unendlichen Leid zu trösten.
Dann kann, manchmal sogar ohne Reue des Täters, der Täterin ein Verzeihen möglich sein. Manchmal erst nach der Beantwortung der Frage: wofür war es gut, dieser jahrelange vielleicht unbehandelte Schmerz? Oder auch ein Besser-Verstehen, dass der Täter auch andere Anteile in sich trägt und vielleicht „nicht wusste, was er tat“, was aber keine Entschuldung zur Folge haben kann.
Bei manchen Menschen taucht die Verletzung erst nach vielen Jahres des scheinbaren seelischen Gleichgewichtes wieder auf. Der Schmerz taucht wieder auf, die Verzweiflung stellt sich ein. Das Schreckliche wurde in Schach gehalten. Viele Menschen, denen in der Zeit der Kindheit, wo jeder Mensch am verwundbarsten ist, großer Schmerz zugefügt wurde, können ein relativ zufriedenes Leben führen. Wir würden sagen, sie verfügen über große Resilienz, also Widerstandskraft.
Bei manchen entwickeln sich schwere Persönlichkeitsstörungen oder Traumafolgestörungen wie die Posttraumatische Belastungsstörung. Neid und Groll, Wut und Hass, aber auch Selbsthass und Scham und sogar Schuldgefühle bestimmen den Alltag. Die Personen haben das Gefühl, dass sie nicht gut sind, dass sie grundsätzlich nicht sein dürfen, wie sie sind. Manche fühlen sich nicht gesehen und suchen übertrieben nach Aufmerksamkeit, wollen in ihrem Leiden gesehen werden, wo der Andere oft nicht verstehen kann, warum dieses Leid so groß ist. Oder sie suchen nach jemandem, der ihr Leid als wahre Singularität oder als unheilbar anerkennt. Wenn der Schmerz ungewürdigt bleibt, kann der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin helfen. Ressourcen müssen gestärkt, Sicherheit gegeben werden. Häufig erfolgt eine Therapie traumatischer Erlebnisse beginnend mit einer Phase der Stabilisierung, wofür verschiedene Techniken zur Anwendung kommen. Es geht in dieser oft sehr langen Phase um den Umgang mit überflutenden Bildern, Selbstverletzungen, einem Schauen danach, ob es auch Gutes in der Kindheit gab und vielen anderen stützenden Angeboten.
Manchmal ist eine Traumaaufarbeitungsphase, eine gezielte Konfrontation mit dem traumatischen Geschehen notwendig. Und erst danach geht es um den Aufbau neuer Lebensperspektiven. Bei besonders schmerzhaften und traumatisierenden Erlebnissen ist hier den Personen ein Verzeihen nicht möglich. Manche möchten oder können das nicht, und in der Debatte um das Verzeihen besonders schmerzhafter Erlebnisse wie einer sexuellen Missbrauchserfahrung, ist ein großer Streit in der PsychotherapeutInnenszene entstanden, ob Verzeihen möglich und sinnvoll ist. Das könnte aber auch mit der gegenwärtigen Debatte um sexuellen Missbrauch selbst zu tun haben, die einen Exklusivanspruch anderen schweren seelischen Verletzungen gegenüber zu formulieren scheint, was aber an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden kann.
Es gibt auch Personen, die einen Schlussstrich ziehen können, ohne zu verzeihen. Auch das darf/muss in der Therapie dann so stehenbleiben.
Zu frühes Verzeihen ohne Würdigung des Schmerzes wäre in jedem Fall falsch. Manchmal ist es auch hilfreich nachzufragen, wie es beim Täter zur Tat gekommen ist. „Wusste er oder sie wirklich was sie tat? “ oder trägt der/die Täterin nicht auch andere Anteile in sich? Auch wenn die/der Täterperson nicht im Vordergrund der Therapie steht und ein Verstehen auch keine Entschuldung zur Folge haben muss oder kann.
In der Psychotherapie erleben wir immer wieder: Der Mensch der zu sich selbst ja sagen kann und damit auch seine eigenen Schwächen akzeptiert, kann auf Vergeltung eher verzichten. Im Hass zu leben, ist mühsam und qualvoll. Wer sich selbst nicht verzeihen kann, wer sich selbst gegenüber nicht tolerant sein kann, wird versuchen, Profit aus dem Festhalten am Opferstatus herauszuschlagen, was letztendlich ein unmögliches Unterfangen ist, weil sich das Leben nicht gut anfühlt. Ein Perspektivenwechsel, ein Loslassen wird nicht möglich, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird aufgegeben. Menschen mit großer Angst vor Veränderung ihres Opferstatus halten häufig auch an einem selbst diagnostizierten schlechten Charakter fest, bleiben negativen Gefühlen sich selbst und anderen gegenüber verhaftet.
Mit einem Freispruch, einem Verzicht auf Vergeltung ist es nicht getan. Schließlich gilt die Vergebung nur so lange, wie sie auch aufrecht erhalten wird. Verzeihen vollzieht sich in der Zeit. Immer wieder neu lernen zu müssen, wie man vergibt – das ist die Bürde, die dem aufgelastet wird, der den Schmerz erleiden musste.
Verzeihen heißt nicht: „Schwamm drüber, und alles ist gut“. Das wäre eine Bagatellisierung des Schmerzes.
Doch selbst ein nie ganz abgeschlossener Prozess bringt mehr Freiheit, mehr Freude, mehr „Ja zum Leben“, wenn das Ereignis angenommen wird. Die Verletzung ist nicht rückgängig zu machen. Doch es darf etwas Neues entstehen.
Für manche/n wird es kitschig bleiben und unaufrichtig erscheine, wenn Philomena der Nonne vergibt. Viktor Frankl würde sagen: Die Trotzmacht des Geistes ist es, die dem Menschen trotz widrigster Umstände gestattet, sein Leben selber in die Hand zu nehmen.
Literatur:
Philomena – Eine Frau sucht ihren Sohn, Film von Stephen Frears 2013
Flaßpöhler, Svenja: Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld, München. DVA Verlag 2016
Jankelevitsch, Vladimir: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt am Main. Suhrkamp, 2003
Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben (VA). München, Zürich -TB- 2002
http://www.deutschlandradiokultur.de/verzeihen-oder-die-anleitung-zum-happy-end.1278.de.html?dram:article_id=192661 meyer-drawe, aufgerufen am: 21.08.2018
Tausch, Reinhard: Verzeihen: die doppelte Wohltat in: Psychologie heute, April 1993,Seite 20 – 26